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18.263 Tage

Zeit für einen Ausblick

Es gibt einen Song von den Einstürzenden Neubauten ⧉, der nichts anderes ist als die Vertonung der 12.305ten Nacht im Leben von Sänger und Songwriter Blixa Bargeld:

Die ist meine 12305te Nacht  
Die ersten paar Tausend die kannst Du vergessen  
Ich habe es auch getan  
Diese hier ist auch schon fast vorbei  
Was bleibt ist Nikotin und gelbe Finger

Auch wenn das mit dem Nikotin schon lange nicht mehr auf mich zutrifft (ich habe 1998 mit dem Rauchen schon aufgehört und ich hatte bis dahin extrem gequalmt) und ich aufgrund der Veränderung vom Nachtmensch zum Alltagsmensch nicht über die Nacht, sondern über den Tag schreiben werde - ist der Gedanke interessant, die spontanen Eingebungen einer Rückschau mit dieser Zahl zu beginnen: 50 Jahre sind 18.263 Tage (leicht mit einer ExcelFormel zu berechnen) oder 438.312 Stunden oder 26.298.720 Minuten. Statistisch gesehen ist man am Anfang des letzten Drittels der Lebenszeit - aber wer weiß das schon so genau - und man kann diese eigene Lebenszeit in Relation zu anderen Lebensspannen setzen. Ich kann mich z.B. noch gut daran erinnern, als mein Vater 50 Jahre alt wurde - die 31 Jahre, die er danach noch gelebt hat, sind auch Teil meiner sehr bewussten Lebensspanne und damit überschaubar.

Ich bin ja zur Zeit in meinen Refugium, auf der Insel Amrum. Es gibt keinen schöneren Ort für mich, kein besseren Ort für den 18.263ten Tag. Wenn ich mich frage, warum das so ist, dann wird jeder beim Anblick meiner Fotos in meinen Tagebucheinträgen diese Haltung verstehen können. Aber gibt es jenseits dieser Offensichtlichkeit etwas, was meine Gebundenheit an diesen Ort erklärt?


Selfie im Fenster der "Hafenperle"

Was mich hier herzieht lässt sich auf eine einfache Tatsache reduzieren: die Weite. Ich bin überzeugt davon, dass dies neben einer Bedeutung als Metapher tatsächlich eine ganz pragmatische Bedeutung hat. Mein Verstand braucht ab und zu - zum Ablegen der im Alltag aufgesetzten Scheuklappen der Fokussierung - das Abbrechen aller Wände, den unverbauten Blick auf die Gewissheit des Daseins gesehener Horizonte in allen Himmelsrichtungen. Und damit verbunden die Sichtbarkeit aller Wege zu diesen Horizonten. Ich habe mal den Aphorismus "Nicht gegangene Wege führen zu ungesehenen Horizonten" definiert - das war keine Aufforderung, alle nur erdenklichen Wege zu gehen, um alle Horizonte sehen zu können. Wer könnte das schon, ohne sich geistig in das Chaos zu stürzen? Es war vielmehr eine sehr trübe Feststellung, dass uns der Blick zu den Horizonten verbaut ist und wir gar nicht die Gelegenheit haben, die Wege zu gehen, die vielleicht zu den Horizonten führen, die wir uns anschauen sollten.

So bin ich also hier, im "Labyrinth ohne Wände" und halte Rückschau auf 18.263 Tage.

Manchmal ist der Wunsch ganz stark, diese Möglichkeit, die Weite sehen und zu erleben, auch außerhalb dieser wenigen Tage in dem Refugium, nutzen können zu wollen. Das funktioniert - da die Weite fehlt - nur über die Gelassenheit. Man lässt auf dem alltäglichen Weg einfach ein paar Dinge zurück und erlebt die Distanz ganz bewusst. Die Dinge, die einem den Weg und die Sicht verbauen, lässt man beseite. Insbesondere wenn es um Dinge des beruflichen Alltags geht, sollte Gelassenheit an erster Stelle stehen. Für viele Dinge gilt: "Was Du heute kannst vertagen, lässt sich getrost mit innerer Ruhe vertragen" als Gegenstück zu dem dummen Spruch "Was Du heute kannst besorgen ..." Ich hätte mir diese Gelassenheit früher im Leben gewünscht und hätte ich in einigen Einzelfällen gewusst, welche Nicht-Bedeutung vermeintlich bedeutende Dinge hatten - ich hätte mir diese Eigenschaft sicher auch früher aneignen können. Das ist dann auch so ziemlich das Einzige, was anders hätte laufen sollen.

Wie geht es also weiter? Nun immer mal wieder die Rückkehr auf meine Insel, weiterhin die Gelassenheit exerzieren und an der eigenen Gedankenwelt basteln, wobei es mir schon lange vollkommen egal ist, ob diese Welt für andere zugänglich ist oder sein sollte. Neben den mittlerweile sehr vielen Texte auf diesen Seiten, gibt es natürlich noch sehr viel mehr, mit dem ich mich ständig beschäftige. Kurz vor meinem Urlaub habe ich mal alle Seiten meines seit vielen Jahren in Arbeit befindlichen 2. Romans mit dem Arbeitstitel "OPUS MAGNUM" ausgedruckt und in einem Klemmbinder zusammengestellt - als Grundlage für ein erstes Korrekturlesen und als erste, auch haptische, Buchfassung. Ich bin auch hier sehr gelassen. Irgendwann ist das fertig. Kann nur noch etwas dauern. Kann auch noch eine ganze Weile dauern.

Wenn ich so durch mein Refugium spaziere, dann sehe ich so manches Haus, in dem ich gerne dauerhaft wäre und durch die Fenster permanent in die horizonterweiternde Ferne schauen würde. Für die nach dem 18.263ten Tag noch kommenden Tage werde ich mir diesen Wunsch immer wieder zulassen und immer mal wieder hierher zurückkehren :-)

Heute war das Wetter absolut genial. Nachts hatte es ordentlich gewittert und die schwüle, stickige Luft der letzten Tage vertrieben. Dann den ganzen Tag Sonne mit einer schönen kühlenden Brise - ein perfekter 18.263ter Tag :-)