Zeitenwende(n)
„Zeitenwende“ ist vermutlich das Wort des Jahres. Es markiert zusammenfassend die tiefen Umwälzungen der vergangenen Monate – insbesondere in Bezug auf die deutsche Haltung zu Krieg und Verteidigung. Hand in Hand mit dem „Sondervermögen“1 ist die Zeitenwende unaufhaltsam angekommen. Nur fragen wir uns - im ausklingenden 2022 und beginnenden 2023 - wohin sich die Zeit nun wendet. Vielleicht gibt uns ein Blick in vergangene Zeitenwenden einen Aufschluss?***
10 Uhr 50, Grunewald
Von Stephan Abarbanell
Arthur Schopenhauer hat einmal gesagt, die Zeit habe keine Dauer2. Er meinte damit die objektive Betrachtung der Zeit, zu der der Mensch, durch seinen Verstand und durch die in ihm als Alterungsprozess angelegte Entropie nicht in der Lage ist. So wäre alles vorherbestimmt, vielleicht distinktiv religiös oder stringtheoretisch als Möglichkeit von unendlichen Möglichkeiten – wer weiß das schon.
Aber jetzt mal weniger verkopft … hat es das alles nicht vielleicht schon einmal gegeben? Ist es vielleicht wirklich so, dass mehr als sieben oder acht Jahrzehnte Frieden gar nicht möglich sind, weil dann eine Art Grundreinigung erfolgen muss? Wenn wir mal ziemlich genau 100 Jahre in die Vergangenheit schauen, dann stoßen wir auf ein Ereignis, dass uns Warnung sein sollte. Im Jahr 1922 wurde der damalige deutsche Außenminister Walther Rathenau von Rechtsradikalen auf offener Straße in seinem Auto erschossen. Weil sich dieses Ereignis letztes Jahr jährte, erschienen dazu verschiedene Bücher. Eines davon ragt heraus, weil es sich angenehm herunterlesen lässt, viele Fakten, viele Zusammenhänge vermittelt. Gerade auch jemandem wie mir, der sich für Geschichte interessiert, aber von diesem wichtigen Ereignis nur sehr sporadisch Kenntnis hatte.
Die Ermordung von Walther Rathenau am 24. Juni 1922 war eine Zeitenwende. Allerdings haben damals nur wenige Menschen diese als eine solche erkannt.
Rathenau war eine bemerkenswerte Persönlichkeit. Als Erbe und Vorstandsvorsitzender der AEG war er ein wichtiger Großindustrieller der Kaiserzeit aber auch der Weimarer Republik. Als Schriftsteller war er ein Feingeist und als Politiker ein Pragmatiker. Obwohl er Kriegsgegner war, hielt er die Kriegswirtschaft am Laufen - er war sogar gegen ein Ende des Krieges und plädierte für die Fortführung.
Rathenau war Jude und in vielerlei Hinsicht ein konservativer Nationalist. Der Autor des Buches, Stephan Abarbanell, zeigt jedoch anhand vieler Anekdoten, dass Rathenau niemals dazu gehörte und immer nur ein Deutscher 2. Klasse war. Das Hinausfahren im offenen Wagen ohne Polizeischutz – das war als hätte Rathenau das grausame Ende heraufbeschworen.
Rathenau war als Politiker vor allem eines: ein Pragmatiker. Die Reparationsforderungen akzeptieren und gleichzeitig die Bedeutung eines Deutschlands im Zentrum von Europa hervorheben. Dazu nahm Rathenau auch seine Gegner mit ins Boot und schuf mit der Orientierung nach Russland in dem Vertrag von Rapallo eine Grundlage für ein zukünftiges Austarieren der Kräfte. Wir lesen auch in dem Buch, dass Rathenau die Entlassung Bismarcks, der genau dieses Konzept eines Ausgleichs der Kräfte mit seiner Bündnispolitik verfolgte, für einen Fehler hielt. Aber dieses Konzept hätte mehr Zeit gebraucht. Diese Zeit wurde am 24. Juni 1922 beendet.
Die Folge war das Jahr 1923 mit Hitler-Putsch und Hyper-Inflation. Dass die Weimarer Republik aber noch zehn Jahre weiter bestand lag auch an dem Umgang der Deutschen mit diesem gewaltsamen Tod. Ein gewaltiges Staatsbegräbnis und die Tatsache, dass sich Millionen Deutsche auf die Straße begaben, um gegen die Gewalt von Rechts zu protestieren zeigen, dass die Rechten 1922 noch nicht über den Rückhalt in der Bevölkerung verfügten, den sie vermuteten. Selbst die Tatsache, dass die Rechten bereits Verbündete in den Institutionen hatten, reichte nicht aus für einen Putsch von rechts. 1923 scheitert Hitler noch mit seinem Versuch der Machtübernahme.
Um so wichtiger und interessanter die Frage, was in den Jahren danach geschah. Was hat den Widerstand der Deutschen gegen Antisemitismus und Gewalt von rechts in knapp zehn Jahren ins Gegenteil verkehrt? Vielleicht kann man doch aus der Geschichte lernen?
Diese doch sehr weitgehende Frage stellt sich das Buch nicht. Es bietet Rückblenden, Anekdoten und schwenkt dann immer wieder auf den Schicksalstag ein und den Außenminister, der an diesem Vormittag in sein Auto steigt und darin stirbt. Und diese Anekdoten machen das Buch sehr lesenswert. Es zeigt die vielschichtigen Verbindungen Rathenaus zur Deutschen Kultur oder den Erfinder Edison, der auf der Weltausstellung in Paris seine neueste Idee, die Glühbirne präsentiert und der bei den Rathenaus den jungen Walther Rathenau erlebt. Rathenaus Vater kann den Erfinder überreden, ihm diese Erfindung für die Massenproduktion zu lizensieren. Und es zeigt eben auch den Menschen Rathenau, der eigentlich lieber Künstler gewesen wäre, statt pragmatischer Politiker.
Eines ist sicher: die Weltgeschichte hätte einen gänzlich anderen Verlauf genommen, hätte dieser Pragmatiker seine Ideen weiterverfolgen können. Wir würden alle in einer anderen Welt Leben. Und was ist ein solches Ereignis anderes als eine Zeitenwende?
Zeitenwenden kann man demnach auch vergleichen. Das sollten wir tun. Für den Rückblick auf das schwierige Schicksalsjahr 1923 sind bereits einige Bücher im Handel. Dazu in Kürze mehr und vielleicht auch mit ein paar Antworten auf die gestellten Fragen.
Walther Rathenau
Walther Rathenau (* 29. September 1867 in Berlin; † 24. Juni 1922 ebenda) war ein deutscher Industrieller, Schriftsteller und liberaler Politiker (DDP). Während des Ersten Weltkrieges beteiligte er sich an der Organisation der Kriegswirtschaft und setzte sich für einen „Siegfrieden“ ein. Nach dem Krieg kam er schließlich zur linksliberalen DDP und wurde im Februar 1922 Reichsaußenminister. Zahlreiche publizistische Angriffe gegen ihn warfen ihm vor, dass er sich an der „Erfüllungspolitik“ beteilige: Die Zusammenarbeit mit den Siegermächten liefere Deutschland an diese aus. Rathenau wurde im Juni 1922 von Rechtsradikalen ermordet, was für die Regierung der Anlass war, ein Gesetz zum Schutz der Republik auf den Weg zu bringen.
Rathenau war ein deutscher Jude, der national dachte und zahlreiche größere und kleinere Schriften zum Nationalstaat, zur gelenkten Wirtschaft, zum Krieg und zur Revolution veröffentlichte. Ein nach ihm benanntes Institut, das der FDP nahesteht, verwaltet sein geistiges Erbe.
Am Morgen des 24. Juni 1922, einem Samstag, wollte Rathenau ins Auswärtige Amt in der Wilhelmstraße, um bei einer Prüfung von Konsularsanwärtern zugegen zu sein. Am Abend zuvor hatte er noch bis in die frühen Morgenstunden bei einem Essen mit dem amerikanischen Botschafter Alanson Houghton und Hugo Stinnes den deutschen Standpunkt in der Reparationsfrage erläutert und eine Abkehr von seiner bisherigen „Erfüllungspolitik“ erkennen lassen. Wohl auch deshalb hatte er sich verspätet und war erst um 10:45 Uhr in den Fond seines offenen NAG-Cabriolets gestiegen. Obwohl es im Vorfeld immer wieder konkrete Attentatswarnungen gegeben hatte, fuhr Rathenau ohne Polizeischutz. Auf dem Weg von seiner Villa in der Koenigsallee 65 in Berlin-Grunewald bemerkten weder er noch sein Chauffeur, dass sie von einem Wagen verfolgt wurden. Kurz vor der Kreuzung Erdener-/Wallotstraße (♁Lage), als Rathenaus Chauffeur angesichts der folgenden S-Kurve abbremsen musste, überholte der verfolgende Wagen, ein offener Mercedes-Tourenwagen, den der 20-jährige Student Ernst Werner Techow steuerte. Im Fond saßen der 23-jährige Student Erwin Kern und der 26-jährige Maschinenbauingenieur Hermann Fischer. Während Kern mit einer Maschinenpistole MP18 auf Rathenau feuerte, warf Fischer eine Handgranate in den Wagen. Der von fünf Schüssen getroffene Rathenau starb binnen weniger Minuten.
Quelle: wikipedia.
-
Anmerkung - "Sondervermögen" selbst ist wohl auch eines der Wörter des Jahres. Man müsste als Privatmensch mal zu einer Bank gehen und um die Bereitstellung eines "Sondervermögens" bitten ... ich finde "Extraschulden" angebrachter. Ob sinnvoll oder nicht wäre eine eigene Diskussion. ↩
-
Quelle: "Die Zeit hat keine Dauer, sondern alle Dauer ist in ihr, und ist das Beharren des Bleibenden, im Gegensatz ihres rastlosen Laufes." ↩