Album Rezensionen
Ab und an schreibe ich kurze Eindrücke über neue erschienene Alben. Und mit der Zeit wird auch hier ein größeres Archiv entstehen
(Bewertung: 5 = Meisterwerk, 1 = Richtig schlecht)
Bemerkenswerte Comebacks
Brian Eno - Drums Between The Bells
Das beeindruckende Spätwerk des Brian Eno
Manchmal ist es eine journalistische Floskel, einen Künstler als “Lebende Legende” zu bezeichnen. Nicht so bei Brian Eno. Es gibt kaum einen Musiker und Produzenten, der die Musik der letzten dreißig Jahre so maßgeblich mitgeprägt hat, wie er. Was mit RoxyMusic begann und sich über erfolgreiche Soloaktivitäten manifestierte, ist jetzt mit einem neuen Album fortgesetzt worden.
Die Frage ist berechtigt: Wo wären U2, Coldplay oder David Bowie heute, ohne die Eingebungen eines Produzenten wie Brian Eno? – Wir wissen es nicht. Wir können aber mit Sicherheit den Grund benennen, wie der Erfolg dieser Künstler mit dem Mastermind Brian Eno zusammenhängt. Eno hat nämlich eine ganz wichtige Eigenschaft, die einem Künstler eigen sein muss: er kann und will sich ständig neu erfinden. Ganze Musikrichtungen, wie etwa Ambient, werden ihm zugeschrieben. Und es fällt auch jetzt wieder schwer, eine exakte Einordnung des neuen Albums vorzunehmen. DRUMS BETWEEN THE BELLS ist die endlich zu Ende geführte Arbeit zwischen Eno und Rick Holland, einem britischen Lyriker.
Der Song GLITCH, ein eingängiger Electro-Track, in dem Holland zu den genialen Sample-Eingebungen von Eno roboterhaft ein Gedicht zitiert, ist die Visitenkarte dieser Zusammenarbeit.
Enos Musik schwankt zwischen Meditation und Energie. Manchmal tief melodisch zum Träumen (DREAMBIRDS), manchmal nah an einer eskalierenden Sample-Orgie (SOUNDS ALIEN). Und nicht selten hat der Hörer ein Dejavu – woher kennt man das? Erinnert an David Bowie. Oder U2, als diese mit ZOOROPA elektronisch wurden. Oder ein bisschen TALKING HEADS. Alles richtig. Schauen Sie mal in die Booklets dieser CDs und sie werden Brian Eno als Namen finden. Die Substanz kommt nicht von ungefähr. Stärkster Track ist A TITLE – der Anspieltipp für alle, die sich eigehender mit dieser Musik beschäftigen wollen.
DRUMS BETWEEN THE BELLS wird von Sprechgesang dominiert. Das verschafft Eno und seinen Vokalisten – außer Eno und Holland sind es sieben weitere Sängerinnen und Sänger, die einen oder mehreren Tracks ihre Stimme geben – die Distanz zur Schnulzigkeit, in die träumerische Melodien leicht abdriften können. Einzige Ausnahme ist ein kurzes Intermezzo in dem Track CLOUD 4 mit sehr melodischem Gesang. Der geht dann auch über in den letzten Track, bei dem der Gesang das einzig Melodische ist – das Universum schläft, der Hörer ist im Himmel angekommen. Man könnte meinen, jeder Sonnenuntergang könnt e der letzte sein.
Am besten ist Eno auf diesem Album, wenn er die Sounds laufen lässt. Die Tracks SOUNDS ALIEN oder MULTIMEDIA sind Blaupausen für alle angehenden Remixer-DJs. Wenn es die Kreativität zulässt, dann leistet sich Eno einen neuen Stil. Schubladen interessieren ihn nicht. Nun, er kann es sich leisten. Seine Reputation ist längst jenseits von Gut und Böse – im positiven Sinne. Und sicherlich auch finanziell.
Eno hat hier die Lyrik von Rick Holland perfekt vertont und musikalisch in sein Universum transportiert. Der Kollege, der das Album aktuellen Musik-Express rezensiert hat, hat eine schöne Bezeichnung gefunden. Das Album sei ein Wink an den Zeitgeist. Ja, wahrhaftig – dem schließe ich mich gerne an.
4.1 von 5
Nitzer Ebb - Industrial Complex (2010)
Nitzer Ebb wurden Ende der 80er Jahre als Vorband von Depeche Mode Konzerten bekannt. Zusammen mit Front 242 gelten Sie als die Band des Genres EBM (Electronic Body Music). Höhepunkt ihrer Karriere war 1991 das von Flood und Alan Wilder produzierte Album "Ebbhead". Seit 1995 hatte man nur von Solo-Aktivitäten der Bandmitglieder gehört. Dann 2010 das überraschende Comeback. Nitzer Ebb kündigten ein neues Album, eine Tour und einen neuerlichen Live-Support für Depeche Mode an. Das Comeback heißt "Industrial Complex" und ist in meinen Ohren mehr als gelungen. Nitzer Ebb knüpfen an alte Stärken an.
Martin Gore (Depeche Mode) jault mit bei "Once You Say". Höhepunkte sind aber bei einem ersten Durchhören "Payroll" und "Kiss Kiss Bang Bang" - verspätete Klassiker. Beim zweiten Durchhören ragen meiner Meinung nach zwei Songs besonders heraus: "I´m Undone" und "My Door Is Open". Sie sind nicht ganz so martialisch wie die anderen Songs, sondern haben eine gewissen Spannungskurve, die für EBM mit durchgehenden, monotone Rhythmen eher untypisch ist. Ich bekenne mich aber schon seit langem zu genau dieser untypischen Facette von Nitzer Ebb. Das letzte Album vor dem Comeback "Big Hit" war voll von Songs mit dieser Seite von Nitzer Ebb, was mir persönlich sehr gut gefallen hat. Mit dieser Auffassung stehe ich allerdings ziemlich allein da.
Nitzer Ebb haben dann auch Depeche Mode bei Ihrer Tour in Deutschland unterstützt. Douglas McCarthy, der Sänger (zwischenzeitlich auch auf Solopfaden) hält auch zu Recoil (Alan Wilder) engen Kontakt. Man darf froher Hoffnung sein, dass in naher Zukunft weitere Kooperationen folgen.
4.6 von 5
Haujobb - New World March (2011)
Im Gegensatz zu Nitzer Ebb sind Haujobb eher gediegen, ruhiger, manchmal gar minimalistisch. Mit "New World March" offenbaren Haujobb so etwas wie eine Botschaft. „New World March“ ist ungewohnt kritisch. Die Vorab-Single „Dead Market“ kann man als Persiflage auf aktuelles politisches Gebaren verstehen: „Identity is safe - The content is nothing - Deconstruction of form - We will always follow“. Ja, das ist beinahe philosophisch. Was Haujobb schon immer gut konnten ist eine gewisse Dramaturgie in ihren Songs aufzubauen. So beim Opener „Control“, der sanftmütig daherkommt und dann in geilen Samples ausartet. Meine persönlichen Favoriten sind „Soulreader“ (dürfte auf entsprechenden EBM Parties extrem tanzbar sein) und der Song „Membrane“. Letzterer ist wie eine Visitenkarte für alles, was Haujobb auszeichnet.
Abgerundet wird dieses Comeback mit einem extrem genialen Coverartwork, sowohl bei der EP „DEAD MARKET“ als auch bei dem Album selbst. In einer trostlosen Trümmerwüste hält jemand Ausschau nach der neuen Welt, die uns erwartet. Wollen wir hoffen, dass Haujobb keine prophetischen Gaben besitzen. EBM / Industrial passt von seiner Grundstimmung eben eher zu düsteren, epischen Szenarien - Haujobb geben mit „New World March“ dafür die perfekte Blaupause. Hier das Video zu „Dead Market“, übrigens das bisher einzige offizielle Musikvideo der Band seit ihrem Bestehen.
4.3 von 5
Front Line Assembly - Improvised Electronic Device (2010)
Hammer! Seit fast 30 Jahren im Business haben Front Line Assembly mit I.E.D. das beste Album ihrer Karriere abgeliefert, besser noch als GASHED SENSES AND CROSSFIRE oder TACTICAL NEURAL IMPLANT.
Die Band kann man nur noch bedingt zum EBM Genre rechnen. Mittlerweile lässt sich die Musik sehr viel eher dem Industrial Genre zuordnen. Mehr noch - sie haben dieses Genre begründet, lange bevor Ministry oder Nine Inch Nails es geprägt haben. So ist die Zusammenarbeit mit Al Jourgensen, dem Godfather of Industrial, nur zwangsläufig. Jourgensen, der Mastermind hinter MINISTRY, leiht FLA seine Stimme in dem martialischen Wutausbruch "STUPIDITY". Das ist wie "BURNING INSIDE" auf Speed. Gerade dieser Track ist aber untypisch für das Album. Bei FLA sind alle Alben Konzeptalben. Der Opener, der Titletrack macht sie kampfbereit - es folgt der "Angriff!" - dass FLA sich militärischem Jargon bedienen ist nicht nur ihrem Namen geschuldet. Die Musik ist so martialisch - einen tieferen Sinn kann es nur mit der Durcherxerzierung solcher Begriffe geben. Gewaltverherrlichend - naja, wer FLA hört ist vermutlich eh ein abgestumpfter End-Dreissiger, der es nicht anders verdient hat. Bill Leeb ist als einziges Gründungsmitglied dabei - der Rest des Line-Ups wurde verjüngt. Genialer Übergang in eine neue Generation.
4.6 von 5
Editors - The Weight Of Your Love (2013)
Das letzte Album von Editors mit dem Titel THE WEIGHT OF YOUR LOVE ist schon seit Juni 2013 veröffentlicht. Nachdem sich die Wogen der ersten Rezensionen geglättet haben, mit ein bisschen professionellem Abstand, widmen wir uns der Nachlese dieses Albums. Es ist eine zwangsläufige Weiterentwicklung der Band, die jetzt sogar Ohrwürmer produziert. Das gefällt nicht jedem. Aber das muss es ja auch nicht.
Laut.de sprach vom "schwülstigen Beigeschmack", zu viel Pathos laut der FAZ, bei Plattentests ist nur ein "andersdimensionaler Fortschritt" zu erkennen und das amerikanische Rolling-Stone-Magazin verreißt das Album gänzlich. Man könnte noch viele andere Rezensionen anführen. Es gab in jedem Fall hohe Erwartungen an das Album. Etwas mehr als Durchschnitt unter dem Strich ist als erste Rezension für THE WEIGHT OF YOUR LOVE sicher hart am Verriss - aber so richtig schlecht findet das Album dann doch niemand.
THE WEIGHT OF YOUR LOVE ist das vierte Album von Editors. Die ersten beiden waren Indie-Rock, ganz klar. In Großbritannien waren beide Alben an der Spitze der Charts. Songs wie MUNICH oder SMOKERS OUTSIDE THE HOSPITAL DOOR vergisst man nach dem ersten Hören nicht so schnell. Dennoch waren sie weit weg vom Ohrwurm. Und was charakterisiert den Mainstream wohl eher als ein Ohrwurm?
Dann gab es mit IN THIS LIGHT AND ON THIS EVENING einen großen Bruch. Editors schwenken zum Synthie-Pop über. So bin auf die Band aufmerksam geworden. PAPILLON ist der bis heute größte Hit von Editors: Und jetzt? Alles anders mit THE WEIGHT OF YOUR LOVE? Eigentlich schon - die Entwicklung der Band ist aber geradezu zwangsläufig. Der Rock der Anfangsphase wird mit dem kommerziellen Hitpotenzial verbunden. Die Folge: Ohrwürmer. Ein Kritiker hat die erste Single A TON OF LOVE als Abklatsch von U2´s DESIRE bezeichnet. Warum? Weil im Refrain dasselbe Wort auftaucht. Das ist zu kurz gedacht. Von U2 sind EDITORS weit entfernt.
Aber es ist wirklich erwähnenswert, dass sich sämtliche Songs wie Referenzen auf schon vorhandene große Hits präsentieren. In den meisten Fällen klappt die Einordnung in einem Vergleich jedoch nicht. Die Songs erinnern an andere große Songs, aber man weiß nicht so recht, woran man sich erinnert fühlt. Aber damit sind Editors nicht allein: das künstlerische, wie auch das kommerzielle Konzept einer Band wie COLDPLAY basiert auf solchen Referenzen (Beispiel1, Beispiel2). Machen Coldplay deswegen schlechte Musik? Eigentlich nicht. Dasselbe gilt für Editors. Aber Editors sind mit THE WEIGHT OUF YOUR LOVE näher am Mainstream. Näher an Coldplay als an THE NATIONAL. Wenn überhaupt dann gewinnen Editors mit diesem Album genauso viele neue Fans hinzu, wie sie alte verloren haben. Mein Lieblingstrack von "The Weight Of Your Love" :
4.4 von 5